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Microsoft "Tech Fest"
Staunen über morgen
© Karsten Lemm
Ein Spiegel, der Fotos einblenden kann
Von Karsten Lemm, Redmond
Beim
"Tech Fest" zeigten Forscher des Software-Riesen Microsoft, wie sie
sich die Zukunft vorstellen. Ein paar deutsche Entwickler waren auch
dabei. Die Ideen reichten von Wohnzimmer bis Wolkenkuckucksheim.
Richard Harper steht vorm Spiegel und dreht an einem Rad. Ein
Fingerschnippen, schon rotiert die Scheibe rückwärts, und über das
Spiegelglas hinweg schweben plötzlich Bilder - Digitalfotos, die eine
kleine Kamera, oben Spiegelrahmen, automatisch aufgenommen hat. Alle
paar Sekunden macht es unmerklich "klick!", und eine Speicherkarte hält
die Augenblicke fest, die im Laufe des Tages vorbeiziehen. "So wird der
Spiegel zu einer Zeitmaschine", erklärt Harper, ein
Kulturwissenschaftler, der im Microsoft-Labor in Cambridge, England,
das Zusammenspiel von Mensch und Maschine untersucht. Das magische
Schauglas ist für ihn ein Beispiel dafür, "wie man Alltagsgegenständen
mit simpler Technik etwas Wundersames entlocken kann".
Harper ist einer von Hunderten von Microsoft-Forschern, die in die
Firmenzentrale in Redmond bei Seattle gereist sind, um drei Tage lang
beim "Tech Fest" ihre Projekte vorzustellen. Bei dieser Gelegenheit
können die Wissenschaftler, die sich über sechs Labore auf drei
Kontinenten verteilen, nicht nur ihren Bossen zeigen, wo die Millionen
aus dem Forschungsbudget bleiben; das "Tech Fest" gibt ihnen auch eine
Chance, zu sehen, woran ihre Kollegen arbeiten. "Sogar ich sehe jedes
Jahr Dinge, die mir neu sind", sagt Rick Rashid, Chef der 750 Mann
starken "Microsoft Research"-Abteilung.
Breites Spektrum an Ideen
Die Projekte, die Rashid in seiner Auftaktrede vorstellt, decken ein
breites Spektrum ab: Da ist die kinderleichte Programmiersprache
"Boku", die aussieht wie ein Videospiel, um den Nachwuchs schon früh
für Computerwissenschaft zu begeistern. Da ist das "Bubble Board", das
Nachrichten vom Anrufbeantworter auf einem LCD-Bildschirm anzeigt: Jede
von ihnen sieht aus wie eine Seifenblase, und man erkennt schon am
dazugehörigen Foto, von wem sie stammt. Neue Nachrichten blubbern nach
oben, ältere sinken zu Boden. Besondere Freude hat Rashid, ein
bekennender "Star Trek"-Fan, am "World-Wide Telescope", das es
Internet-Surfern erlauben soll, mit dem PC in die Tiefen des Weltalls
vorzustoßen - ähnlich wie es mit "Google Earth" möglich ist, aus der
heimischen Stube die Welt zu umrunden. Dazu errechnet die Software aus
Millionen von Bildern, aufgenommen etwa vom Hubble-Teleskop, einen
buchstäblich All-umfassenden Atlas des Universums. "Ich liebe die
Vorstellung, zu Hause zu sitzen und den Weltraum zu erkunden", sagt
Rashid, "denn anders werde ich ihn wahrscheinlich nie zu sehen
bekommen."
Weitere Projekte des Tech Fest
1.Die
Sensortechnik der Aachener Microsoft-Forscher Harmke de Groot und
Friedrich van Megen könnte Leben retten, zum Beispiel in der
Heimpflege: Messdaten von Fühlern, verborgen etwa in einer speziellen
Armbanduhr, werden drahtlos an ein Computersystem übermittelt, das
notfalls Alarm schlägt oder automatisch 110 wählt, wenn für den
Patienten Lebensgefahr besteht.
2. HD View: Sieht so der
nächste Schritt für "Virtual Earth" aus, Microsofts Antwort auf "Google
Earth"? Entwickler Matt Uyttendaele könnte es sich gut vorstellen.
"Dieses System ist perfekt, um riesige Fotos übers Internet zu
übertragen", sagt er. Die Bilder, die er beim Tech Fest vorführt,
bestehen zum Teil aus über 800 Einzelfotos, die zu gigantischen
Panoramen zusammengesetzt wurden. Seine Software erlaubt es, aus weiter
Ferne heranzuzoomen, bis kleinste Details sichtbar werden. Eine
Demoversion ist schon jetzt für jeden zugänglich
3.
So fern und doch zum Greifen nah: Andy Wilsons "Surface
Computing"-System gibt Videokonferenzen eine ganz neue Dimension. Der
Microsoft-Forscher hat Kameras und Projektoren so clever genutzt, dass
es möglich wird, Hand in Hand zu arbeiten, selbst wenn man Tausende von
Kilometern voneinander entfernt ist. "Bei herkömmlichen
Videokonferenzen geht viel an Gestik verloren", sagt Wilson. "Hier
bekomme ich intuitiv einen besseren Eindruck davon, was mein Kollege am
anderen Ende tut." Und da das Leben nicht nur aus Arbeit besteht,
eignet sich seine Erfindung auch wunderbar zum Schachspielen auf
Distanz.
Es ist nicht die einzige Forschungsidee, die von einem Blick auf andere
inspiriert scheint. Als Nummer drei unter den Suchmaschinen hinkt
Microsoft weit hinter Google und Yahoo hinterher; auch in Sachen
"Social Networking" hat der Softwareriese bisher wenig zu bieten. Also
bedient sich Microsoft-Managerin Lili Cheng der Konkurrenzdienste
YouTube und Flickr, um die Vision von der "Mix"-Suche vorzustellen: Das
Microsoft-Projekt erlaubt es, gezielt verschiedene Quellen für die
Suche auszuwählen - je nachdem, ob es um Texte, Fotos, Videos oder
Musik geht. Das Ergebnis kann per E-Mail weitergeleitet werden. Ein
anderer Forscher stellt eine Suchmaschine vor, die Daten auf der
Festplatte des Nutzers analysiert, um zu erkennen, was jemand wohl
meint, wenn er nach "Bush" sucht - den Präsidenten, die Pflanze oder
den Sportler Reggie Bush.
"Solche Vorwürfe sind unfair"
All das soll zeigen, dass Microsoft schwer auf Draht ist, selbst wenn
sich die Firma von Kritikern immer wieder anhören muss, das
Internetzeitalter verschlafen zu haben. "Solche Vorwürfe sind unfair",
kontert Rick Rashid und verweist auf den Erfolg des Online-Dienstes
Xbox Live, der knapp sechs Millionen Mitglieder hat. "Wir haben
vorgemacht, wie ein erfolgreicher Service für Online-Spiele aussehen
muss", sagt er. "Nun sind es Sony und Nintendo, die versuchen
aufzuholen." Die Xbox sei auch ein gutes Beispiel dafür, dass man nie
wisse, wohin Grundlagenforschung einmal führen könne. "Die Technik in
der Xbox geht direkt auf die 3D-Grafikabteilung zurück, die wir in den
1990er Jahren aufgebaut haben", sagt Rashid. Damals kümmerten sich die
Herren in der Chefetage, Bill Gates und
Steve Ballmer,
noch vorwiegend um DOS und Windows. Die Wissenschaftler in ihren Labors
haben deshalb weitgehend freie Hand. "Wir geben niemandem die Richtung
vor", sagt Rashid. "Wir versuchen lediglich, die besten Leute
anzuheuern, damit sie sich um die Dinge kümmern können, die sie am
meisten interessieren."
Mit dem "earPod" zu besserer Bedienbarkeit
So steht nun Patrick Baudisch an seinem "Tech Fest"-Stand und erklärt,
was er sich beim "earPod" gedacht hat. "Viele Geräte brauchen heute die
Aufmerksamkeit des Benutzers", sagt der deutsche
Softwaredesign-Experte, der seit vier Jahren in Redmond arbeitet. Ohne
hinzusehen lassen sich die meisten Geräte kaum bedienen. Das ist nicht
immer praktisch, manchmal sogar gefährlich. "Auf dem Weg hierher habe
ich im Auto meine E-Mail gelesen", gesteht Baudisch. "Keine wirklich
gute Idee." Bald wird ihm das Auto die Nachrichten vorlesen können,
daran arbeiten seine Kollegen bei Microsoft schon; aber das löst nicht
das Grundproblem, dass jedes Gerät eigene Menüs und Tastenkombinationen
nutzt, die oft fröhlich wechseln, je nach Funktion und Situation. Das
will Baudisch ändern.
"Ich
habe mein Telefon schon seit drei Jahren und muss immer noch
draufschauen", sagt er. Wenn es sich so einfach und verlässlich
bedienen ließe wie der Prototyp, den Baudisch in der Hand hält, wäre
das anders: Das Gerät, das nicht nur dem Namen nach an Apples
Musikspieler erinnert, besitzt eine Drehscheibe, der je nach
Finger-Position bestimmte, immer gleichbleibende Funktionen zugeordnet
werden können. Zur Bestätigung liest der "earPod" jeweils das Kommando
vor, das der 39-jährige Forscher gewählt hat. Zugegeben, auch die
Fingerpositionen muss man sich erst einprägen - doch eine Nutzerstudie
habe gezeigt, sagt Baudisch, dass viele Menschen schon nach 15 Minuten
mit dem "earPod" flinker sind als mit herkömmlichen Menüsystemen.
SMS zum Aufkleben
Vielleicht findet sich Baudischs Idee irgendwann in einem Wohnzimmer
der Zukunft wieder - einem von der Art, in der schon Richard Harpers
Zeitmaschinen-Spiegel hängt, gleich neben dem "Bubbleboard" für
Nachrichten vom Anrufbeantworter und einer skurrilen Erfindung namens
"Text2Paper": Das Gerät, das an eine Tesafilm-Rolle auf einem Haufen
Computerchips erinnert, kann SMS-Nachrichten empfangen und auf
Klebe-Etiketten ausdrucken - ein Service für alle Menschen, die jetzt
schon das Gefühl haben, dass die Zukunft sie überholt hat. Und wenn
auch das kein Trost ist, bleibt ja immer noch das Rad am Spiegel, mit
dem sich die Zeit ein Stück zurückdrehen lässt.
Artikel vom 09. März 2007
Artikel-URL: http://www.stern.de/computer-technik/technik/:Microsoft-Tech-Fest-Staunen-%FCber/584329.html
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